Deutschlands Angst vor Europa


von Steffen Huck und Michael Zürn

(zuerst erschienen in Table Europe am 22. 5. 2024)

Kein anderer Prozess hat im zwanzigsten Jahrhundert den Weltfrieden mehr stabilisiert als die europäische Integration. Es ist eine Erfolgsgeschichte internationaler Zusammenarbeit, die ihres gleichen sucht, seit sechzehn Jahren, dem Vertrag von Lissabon, aber auf der Stelle tritt.

Die europäische Integration erfolgte freilich noch nie krisenfrei. Auf Krisen und Verwerfungen wurde zumeist mit einer Vertiefung der europäischen Integration geantwortet. Die ökonomische Eurosklerose der 1980er Jahre führte zum Binnenmarktprogramm. Die Ängste angesichts der deutschen Vereinigung wurden mit der Schaffung des Euro begegnet. Und dieselbe Logik gilt für die Serie wirtschaftlicher und politischer Krisen, die Europa seitdem den Atem geraubt hat. Als Reaktion auf die Finanzkrise wurde die Bazooka und der Euro-Schutzschirm ausgepackt. Zwar hat der Euro gegenüber dem Schweizer Franken seit 2007 45% an Wert verloren, aber es hätte schlimmer kommen können, und nicht alle Länder können das Schweizer Geschäftsmodell verfolgen.

Die Krisenantworten blieben aber seit dem Lissaboner Vertrag kleinteilig. Die Krisen der 2000er führten zwar de facto auch zu einer Stärkung der Europäischen Institutionen, aber sie befeuerten nicht mehr das europäische Projekt als solches, auch wenn sie einmalige Chancen dafür boten. Krisen können nämlich helfen Hürden zu nehmen, die im Normalzustand nicht überspringbar sind. Die mehrfach vorgetragene Idee, der weitgehenden wirtschaftlichen Integration auch eine entsprechend weitgehende politische folgen zu lassen, ist in den letzten zwei Jahrzehnten ins Leere gelaufen. Das europäische Projekt stockt seit Lissabon. Also nach wie vor keine gemeinsame Migrationspolitik und immer noch das Vetorecht für alle Mitgliedsstaaten. Schön für Ungarn!

Schuld an der integrationspolitischen Lethargie ist nicht zuletzt Deutschland. Dabei geht es nicht einmal zuvorderst um die vielen europäischen Initiativen, die Deutschland in der EU blockiert hat, deren Liste lang ist (man denke an den Verbrennungsmotor oder medizinische Schutzausrüstung während der Pandemie). Es gilt insbesondere für die Großfragen der Vergemeinschaftung von Schulden oder einer gemeinsamen Verteidigungspolitik.  Die deutsche Europapolitik klammert sich an den institutionellen status quo and lässt vielversprechende Initiativen der Partner ins Leere laufen.

Angesichts der der jüngsten Krisen mit einer erstarkenden Rechten und dem Russischen Angriffskrieg auf die Ukraine könnte das Europäische Projekt mit neuem Schub in lange ungekanntem Ausmaß versorgt werden, wenn Deutschland die Europäische Integration nur wieder Ernst nähme. Wenn am Ende des Jahres Putin Kiew und Trump Washington kontrollieren sollten, wird Europa gefordert sein. Es ist dann der Punkt erreicht, an dem die EU nicht uns, sondern wir Europa brauchen. ‚Unsere Panzer‘ werden nicht reichen.

Gerne sehen wir uns Deutschen als diejenigen, die mehr zu Europa beitragen als alle anderen. Niemand zahlt soviel in die EU wie wir (egal, wie man es misst: absolut, als Teil des BIPs oder pro Kopf), und niemand nimmt mehr Flüchtlinge auf. Wir sind die good guys, wir stehen zu Europa! Aber tun wir’s wirklich? Wenn wir es täten, wenn wir es wirklich ernst meinten mit Europa, dann muss das Europäische Projekt jetzt weitergetrieben und vertieft werden. Eine Integration der Sicherheitspolitik und des Militärs kann aber nur in einer demokratischen Union gelingen. Und an diesem Punkt zeigt sich die Bedeutung der Europawahlen.

Dass wir Europa und seinen Wahlen nicht genügend Bedeutung zumessen, zeigt sich schon an dem politischen Personal, das wir in die europäischen Institutionen senden. Wir sollten unsere Besten in der EU Kommission, im EU Parlament und im Führungsstab anderer europäischer Organisationen wie der Europäischen Investitionsbank sitzen haben. Stattdessen: Klaus Hänsch und Hans-Gert Pöttering und Werner Hoyer und eine gescheiterte Verteidigungsministerin, die nicht als Spitzenkandidatin gewählt wurde. Von den nächsten Ebenen mag man gar nicht erst reden. Wer es in seiner Partei nicht zum Landtagsmandat schafft, kandidiert fürs Europaparlament. Da verdient man deutlich besser und ist aus dem Weg.

Dabei mangelt es keineswegs an Talenten. Nur dass wir in ein System geschaffen haben, in dem keiner mehr glaubt, in europäischen Institutionen ließe sich mehr als Geld machen.  Stattliche steuerfreie Einkommen in Brüssel und Straßburg sind zum Trostpreis verkommen und eignen sich bestens, unliebsamen Weggefährten Angebote zu machen, die sie nicht ablehnen können. Das europäische Projekt kann aber nur weiterentwickelt werden, wenn wir die Talentiertesten und Besten dafür bereitstellen.

Gleichzeitig muss die nächste Stufe der europäischen Integration mit einer deutlichen Demokratisierung einhergehen. Die Europawahl muss zu einer Einrichtung werden, bei der die Wählerinnen und Wähler wissen, was ein Kreuz für eine Kandidatin und Partei politisch bedeutet. In Abwesenheit von politischen Debatten über den europäischen Weg, in Abwesenheit von europaweiten Wahllisten und angesichts der de-facto Bestimmung der Präsidentin der Kommission durch den Rat verkommt der urdemokratische Akt zu einer ritualisierten Abstrafung der aktuellen nationalen Regierungen.

Ist es zu spät? Wer die Frontverläufe in der Ukraine studiert, muss sich diese Frage stellen. Wenn wir Europa ernst nehmen wollen, ist es jetzt höchste Zeit zumindest im Kleinen und ganz Konkreten umzudenken, und das heißt vor allem erstmal eines: Wahlen erst nehmen, Europa zu politisieren und mit ihm unseren eigenen Schutz zu organisieren. Ein erster Schritt besteht darin, unsere besten Kräfte zur Wahl zu stellen und nach Europa zu schicken. Nur sie können für Europawahlen die Aufmerksamkeit erzeugen, die sie brauchen, und es heißt auch, anderen Mitgliedsstaaten, wenn sie für einzelne Positionen bessere Kandidat*innen haben, nicht im Weg zu stehen, ihnen aber auch die Stirn zu bieten, wenn sie schwächere aufgrund reiner Proporzgedanken glauben durchsetzen zu können. Andernfalls befänden wir uns weiterhin in einer Spirale der Mediokrität, die das einstmals so erfolgreiche europäische Projekt aufs schlimmste gefährden würde. Und damit ab spätestens 2025 auch unsere Sicherheit.

Der vorletzte Satz steht im Konjunktiv, um ein wenig Hoffnung Ausdruck zu geben. Viel Zeit haben wir freilich nicht mehr für ein derartiges Umdenken.