Von Deutschland aus schaut man einmal mehr mit Staunen in Richtung Groß-Britannien. Nach den augenblicklichen Vorhersagen wird dort die Labour Partei am 4. Juli mit 44% der Stimmen 75% aller Mandate im Unterhaus gewinnen. Das Mehrheitswahlrecht macht es möglich, und es versucht einen der Gedanke, wie prächtig das doch ist: dass die Conservative Party, die über 14 Jahre in der Regierung hinweg nur Unglück über ihr Land gebracht hat, auf diese Weise abgestraft werden wird.
Da verschieben sich nicht Mehrheitsverhältnisse in Koalitionen, die zu einem Prozent Einkommen mehr oder weniger hier oder da führen werden, einem Prozent, das weder Gewinner noch Verlierer wirklich spüren würden – statt dessen wird es ein Erdbeben geben, das zu massiven ökonomischen Korrekturen führen wird.
Mit dem Mehrheitswahlrecht wird aus langanhaltender Frustration ein formidabler Triumph werden, und die Verlierer der letzten anderthalb Dekaden werden ein gut Stück weit entschädigt werden – mit mehr als einem kleinen, unterhalb der Wahrnehmungsgrenze liegenden Prozent. Darauf wird Verlass sein.
Ist das nicht funktionierende lebendige Demokratie, fragt man sich? Wenn wirklich mal was passiert statt immer nur eine Viertelumdrehung an einem kleinen Schräubchen und dann wieder zurück oder ein Viertel links oder rechts an einem anderen?
Im in sich ewiger Stagnation befindlichen Deutschland mag man davon träumen – von einem echten Ruck, der neue Ansätze möglich macht. Statt Zeitenwendchen Zeitenwende, statt Energiewendchen Energiewende. Und Schluss mit sich ewig selbst bekabellenden Koalitionen, endlich mal action! Her mir den Windrädern! Und Schluss auch mit dem Kleinparteiengemurksel. Das Mehrheitswahlrecht gibt das nicht her, da gibt es maximal drei, die was zu sagen haben, und dann kann man rangehen an die Sachen und muss keine Kompromisse mit Sahra Wagenknecht machen (die uns zumindest im Osten Deutschlands ja bevorstehen).
Groß ist die Versuchung, sich so etwas auch für Deutschland zu wünschen: Klare Verhältnisse! Klare Linien! Vorwärts statt Stillstand! Erneuerung!
Es mag zwar mal 14 Jahre dauern, Miseren eingeschlossen, aber dann kommt die Korrektur, und sie kommt nicht zu knapp.
Wie wäre es also mit einem Mehrheitswahlrecht in Deutschland? Die Wählerinnen und Wähler müssten natürlich umdenken, aber sagen wir, sie täten es erstmal nicht und gäben ihre Stimmen einfach so ab wie jetzt. Was würde dann passieren? Es braucht kein Hexenwerk, um dieses Szenario, klar zu beschreiben. Die AfD würde nahezu alle Sitze im Osten Deutschlands gewinnen, die CDU nahezu alle im Westen. Die SPD hätte noch ein paar Mandate dank den großen Städten. Grüne, FDP und andere Kleinparteien wären komplett eliminiert.
Für alle Leser, die bei Energiewende statt Energiewendchen artig genickt haben, ein Horror auf den ersten Blick. Aber was auf den zweiten?
Die CDU müsste sich in einem solchen Szenario nicht mehr den von schlichtem Rassismus geprägten Themen der AfD andienen. Sie könnte stattdessen erst einmal durchregieren. Die SPD müsste sich neu aufstellen und im Westen wie Osten klarere Alternativen zu einer regierenden CDU anbieten. Die Grünen müssten sich auf einige wenige Wahlbezirke konzentrieren – in Berlin und Stuttgart zum Beispiel und könnten sich dabei wieder stärker auf ihren Kern besinnen. Die FDP müsste schließen, und Sahra Wagenknecht könnte sich um die Pflege ihres Ehemanns kümmern.
Es wäre dies freilich ein Szenario, dass zunächst geprägt wäre von Westen (CDU) gegen Osten (AfD), was einer mit großer Mehrheit regierenden CDU den Auftrag gäbe, die Einheit zu wahren und Sezessionsbestrebungen zu vermeiden. Dabei würde ihr eine smarte SPD helfen, die sich wieder ihrem ureigenen Thema der Verteilungsgerechtigkeit widmet.
Die große Chance der SPD bestünde dabei im Föderalismus, da abzusehen wäre, dass weder die westlichen CDU-regierten, noch die östlichen AfD-regierten Länder (wenn wir jetzt einmal weiter annehmen, dass das Mehrheitswahlrecht auch aus Landesebene gölte) besonderes Augenmerk auf die ureigene SPD-Thematik legen würden. Die SPD würde mithin zu einer die deutsche Politik disziplinierenden Kraft und in dieser Disziplinierung vielleicht einflussreicher als in der Regierung jetzt.
Bleiben wir noch kurz beim Föderalismus und den Ländern. Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Thüringen würden ja zunächst einmal alle von der AfD regiert werden. Aber in einem föderalistischen Staat stehen die Länder in einer Wettbewerbssituation, und das wird die AfD entweder disziplinieren oder, sollte sie ihre augenblicklichen Linien weiterverfolgen, in der mittleren Frist so schwächen, dass sie politisch auch im Osten entmachtet wird (was, nebenbei bemerkt, auch den Grünen neue Chancen eröffnen würde).
An dieser Stelle, an der es ja durchaus ganz gut aussieht für ein Mehrheitswahlrecht auch in Deutschland, mag man einwenden, dass es ja genau das Mehrheitswahlrecht war, dass David Cameron dazu gebracht hat, über den Brexit anstimmen zu lassen, mit all den katastrophalen Folgen.
Die einfache (und eventuell auch definitive) Antwort auf diesen Einwurf würde lauten, ja, dann halt keine Plebiszite! Die etwas komplexere lautet, dass ein Mehrheitswahlrecht nicht mit Zentralismus einhergehen muss. Föderale Strukturen können bewahrt bleiben, und vernünftige föderale Strukturen in Groß-Britannien hätten auch den Brexit unmöglich gemacht.
Nichtsdestotrotz bleibt es natürlich bei der Beobachtung, dass das Verhältniswahlrecht per se zu mehr Stabilität und damit zu weniger gesellschaftlichem Risiko führt. Aber dieses Risiko kann zu einem großen Teil durch föderalistische Strukturen minimiert werden. Und mitunter, wenn Stagnation immer nur weiter langsam aber stetig in den Abgrund führt, ist Risiko geboten.
Steffen Huck